Persönliche Würdigung: Als Michail Gorbatschow wie ein unbeschriebenes Blatt an die Macht kam, lösten seine öffentlichen Auftritte bei mir zunächst Misstrauen aus, denn es schien, als stünde ein weiteres Mal bloß die pauschale Aburteilung der Vorgeschichte und neue Einheitslehre an.
Mit dem "April-Plenum" (1985) jedoch sprach Gorbatschow eine Systemkritik und Forderungen aus, die tatsächlichen Wandel zum "sozialistischen Pluralismus" unausweichlich machten, der seit Gründung der Sowjetunion als Trotzkismus, Sektierertum, Fraktionismus, Revisionismus, Subjektivismus, kleinbürgerlich usw. verdammt und verfolgt worden war.
Tatsächlich aber scheiterte auch der sozialistische Pluralismus und die Vision eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" an innenpolitischen Konzeptlosigkeiten und Widerständen einerseits, wohl aber auch an ideologischen Ungereimtheiten und den systemischen Schwächen des staatsmonopolistischen Sozialismus im Wettbewerb mit kapitalistisch wirtschaftenden Gesellschaften, so dass auch Gorbatschow mehr und mehr zu sozialdemokratischen Auffassungen gelangte.
So sehr ihm russische Nationalisten verübeln, ihnen das Riesenreich der vormaligen Sowjetunion nicht vor dem Zerfall bewahrt zu haben, so ist auch das ein Verdienst seiner Politik zugunsten der Selbstbestimmung der Völker, beispielsweise der deutschen Wiedervereinigung.
Seine größte Leistung allerdings ist die Beendigung des in der brandgefährlichen Unkalkulierbarkeit stets heruntergespielten Ost-Westkonflikts, wofür Gorbatschow zurecht und hochverdient 1990 den Friedensnobelpreis bekam.
Sofern ein solches Ranking überhaupt Sinn machen kann, wäre Gorbatschow der beste und wichtigste Politiker des 20. Jahrhunderts.
Markus Rabanus >> Diskussion